Kamerun: Die weltweit am meisten
vernachlässigte Vertreibungskrise
Kamerun befindet sich derzeit in einer humanitären Notlage, welche vom Norwegischen Flüchtlingsrat (Norwegian Refugee Council) als die im Jahr 2024 am meisten vernachlässigte Vertreibungskrise der Welt bezeichnet wird. Obwohl Millionen von Menschen betroffen sind, bleibt die Krise weitgehend unsichtbar für die internationale Öffentlichkeit. Im Jahr 2024 wurden nur 45 % der benötigten humanitären Hilfe gedeckt – mit gravierenden Folgen für die betroffene Bevölkerung.
Das Land leidet unter drei sich überschneidenden Krisen:
Anglophoner Konflikt im Nordwesten und Südwesten:
Seit 2016 haben Zusammenstösse zwischen separatistischen Gruppen und der Regierung über 648.000 Menschen innerhalb Kameruns vertrieben. Viele weitere sind in Nachbarländer geflohen.Aufstand im äussersten Norden (Tschadseebecken):
Angriffe durch Boko Haram und den Islamischen Staat in Westafrika (ISWAP) haben über 573.000 Menschen zur Flucht gezwungen, Infrastruktur zerstört und die Ernährungskrise weiter verschärft.Flüchtlingszustrom aus der Zentralafrikanischen Republik:
Der anhaltende Konflikt in der Zentralafrikanischen Republik hat seit 2013 über 353.000 Flüchtlinge nach Kamerun getrieben.
Besonders alarmierend ist das mangelnde internationale Interesse. Anders als andere Konflikte, die regelmässig Schlagzeilen machen und auf der Agenda politischer Entscheidungsträger stehen, bleibt die Lage in Kamerun weitgehend unbeachtet. Die Berichterstattung in den Medien ist spärlich, und verschiedene Länder haben ihre finanzielle Unterstützung in den letzten Jahren immer weiter zurückgezogen. Während weltweit Milliarden für andere Krisen bereitgestellt werden, wird Kamerun vielfach übersehen.
Die Auswirkungen dieser Vernachlässigung sind dramatisch: Unzählige Familien leben ohne ausreichende Nahrung, ohne Zugang zu sauberem Wasser oder medizinischer Versorgung. Schulen bleiben geschlossen, Kinder verlieren den Anschluss an ihre Bildung. Dabei sind Frauen und Mädchen besonders gefährdet, durch Gewalt, Ausbeutung und Perspektivlosigkeit.
Auch unsere Arbeit bei anang&ilema ist von der momentanen Situation betroffen. In einer Region, die ohnehin nur selten im Fokus steht, verschärfen instabile Stromversorgung, regelmässige Internetausfälle und unsichere Reisebedingungen unsere täglichen Herausforderungen. Dennoch sind wir mit voller Überzeugung genau dort aktiv, wo der Rest der Welt oft wegschaut.
Mit Projekten, die Frauen im Nordwesten Kameruns auf ihrem Weg zu mehr Unabhängigkeit und Selbstbestimmung begleiten, setzen wir ein Zeichen gegen das Vergessen. Wir geben nicht auf und gemeinsam mit Ihnen können wir dafür sorgen, dass die Stimmen der betroffenen Menschen gehört werden.
Seit 2016 tobt im Nordwesten von
Kamerun ein gewaltvoller Konflikt
Kamerun ist sprachlich in zwei Teile unterteilt: einen anglophonen und einen frankophonen Teil. Die Mehrheit der Bevölkerung spricht Französisch, ebenso wie der amtierende Präsident des Landes, Paul Biya. Kamerun wird nicht nur durch die gesprochene Sprache im Land getrennt, sondern auch durch separate Bildungs- und Rechtssysteme aufgrund der kolonialen Geschichte.
Kamerun war bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs eine deutsche Kolonie. Danach wurde das Land zwischen England und Frankreich aufgeteilt. Der Teil neben Nigeria wurde zu englischen Kolonien, während der Rest Teil der französischen Kolonie wurde. Im Jahr 1961 wurde das "Southern Cameroons", wie die englischsparachige Region während der Kolonialisierung bekannt war, Teil der neu unabhängigen Republik Kamerun (ehemalige französische Kolonie). Bis 1971, als die neue Verfassung Kamerun als Einheitsstaat erklärte, war das Land föderal organisiert.
Nach Jahren des Friedens, aber auch vieler Versuche anglophoner Bürger*innen, mehr Unabhängigkeit und föderale Organisation des Staates zu erreichen, führten anhaltende Unzufriedenheiten zu einem gewaltsamen Konflikt. Ende 2016 begannen anglophone Anwält*innen zu streiken, weil sie mit dem Gebrauch von Französisch in anglophonen Gerichten unzufrieden waren. Die ersten Streiks fanden im Oktober 2016 statt. Demonstrationen folgten am 8. November 2016 in Bamenda, der Hauptstadt des anglophonen Teils von Kamerun. Die Regierung zeigte von Anfang an eine eher negative Haltung zu diesen Protesten, indem sie mit einer strengen und gewaltsamen Reaktion des Militärs auf die Demonstrationen reagierte.
Am 21. November 2016 schlossen sich Lehrer*innen den Anwält*innen auf der Strasse an, um ihrem Unmut über die Zustände im anglophonen Bildungssystem Ausdruck zu verleihen. Die gewaltsamen Reaktionen der Regierung auf die Proteste deuteten darauf hin, dass die Regierung von Biya nicht bereit war, mit den Anliegen und Forderungen der Anglophonen in einen Dialog zu treten oder diese ernsthaft zu adressieren.
Die Forderung nach Unabhängigkeit der ehemaligen "Southern Cameroons" wurde immer stärker, während die Polizei und das Militär weiterhin mit grosser Präsenz reagierten. Die Demonstrant*innen appellierten an die Regierung von Kamerun, für eine Gleichbehandlung der englischen Sprache im Bildungssystem sowie auf Verwaltungs- und Justizebene. So ist es in der Verfassung des Landes festgelegt.
Genaue Zahlen gibt es nicht, sondern eher eine Unterschätzung der Opfer. Mit einer Million Menschen, die bereits ihr Zuhause verlassen mussten, hat der Konflikt auch Einfluss auf die Bildung der jüngsten Opfer. Dokumentationen von Menschenrechtsverletzungen gibt es auf beiden Seiten des Konflikts. Es lässt sich jedoch sagen, dass die meisten Opfer auf Seiten der anglophonen Bevölkerung zu finden sind.
Die Deutsche Welle (DW) ist Deutschlands internationale Informationsanbieterin spezialisiert auf Themen wie Freiheit und Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaat, Welthandel und soziale Gerechtigkeit.
Valentine erklärt die Situation im Nordwesten von Kamerun Anfang 2025
Ghost Town Days
Als Reaktion auf die politische Krise finden im anglophonen Teil Kamerun’s jeden Montag und an nationalen Feiertagen sogenannte „Ghost Town Days" statt. Das bedeutet einen erzwungenen Lockdown, bei dem Schulen, Märkte und Geschäfte geschlossen bleiben. Valentine berichtet: „Ein Ghost Town Day ist eine Massnahme der separatistischen Kämpfer. Viele Menschen lehnen dies ab, weil es das Geschäftsleben lahmlegt und der Wirtschaft massiv schadet." Die Folgen der Ghost Town days sind vor allem starke Inflation, wirtschaftliche Not und weitgreifende Unsicherheit. „Wir leiden sehr unter den regelmässigen Ghost Town Days und den Kämpfen zwischen den Separatisten und dem Militär”, sagt Valentine.